Fragment to mała całość – Das Fragment ist ein kleines Ganzes

Ein Projekt von Sigrid Sigurdsson in Polen (ab 1994)

in Zusammenarbeit mit dem Nadbałtyckie Centrum Kułtury Gdańsk, Barbara Bergmann, Lothar Brandt-Sigurdsson, Dr. Michael Fehr, Marek Kwidzinsky, Maciey Nowak und Dr. Martina Pottek. Mit finanzieller Unterstützung von Dr. Michael Otto, Hamburg.

Martina Pottek*

Anlass für die Konzipierung eines ‚Offenen Archivs’ in Polen war die Einladung zur Teilnahme an einer Gemeinschaftsausstellung internationaler Künstlerinnen und Künstler zum Gedenken an den 50. Jahrestag des Kriegsendes am 9. Mai 1995. Ausstellungsort sollte Gdańsk sein – jene Stadt also, mit deren Annektierung durch die Nationalsozialisten am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg begann. Intention der Initiatorinnen war es, mit der Ausstellung ein sichtbares Zeichen des deutsch-polnischen Dialogs zu setzen. Als feststand, dass die Ausstellung nicht realisiert werden konnte, setzte Sigrid Sigurdsson ihr Projekt unabhängig fort. Der mit dem Ausstellungsort und -datum ursprünglich vorgesehene Rahmen sollte beibehalten werden.

Olaf Bergmann (alle Fotos)

 

In diesem Projekt richtete Sigrid Sigurdsson den Fokus auf die Geschichte der Region Danzigs im Zweiten Weltkrieg. Im Zentrum ihres Interesses stand das ehemalige Konzentrationslager Stutthof. Von dort gingen kurz vor Kriegsende, in der Zeit vom 25. Januar bis zum 9. Mai 1945, so genannte „Todesmärsche“ von Gefangenen aus. Ihre Route führte durch 24 benachbarte Dörfer und endete an verschiedenen Orten in Küstennähe, wo die Häftlinge entweder exekutiert oder mit Schiffen auf dem offenen Meer ausgesetzt wurden. Im Rahmen ihrer Recherchen erfuhr die Künstlerin, dass unter den älteren Bewohnern der betreffenden Dörfer noch Überlebende und Augenzeugen dieser Todesmärsche lebten. So entstand ihre Idee, die Zeitzeugen dazu aufzufordern, ihre Erinnerungen und Berichte handschriftlich zu fixieren und in einem ‚Offenen Archiv’ zu sammeln. Auf diese Weise sollte die Geschichte nicht nur bewahrt, sondern auch öffentlich präsentiert und jedermann zugänglich gemacht werden. Um den Kern des Archivs aufzubauen, richtete sich Sigurdsson vorrangig an die Bewohner jener 24 Dörfer, durch die die Kolonnen der Gefangenen von Stutthof fünfzig Jahre zuvor getrieben worden waren.

Da es hier um die Auseinandersetzung mit nationalsozialistischen Verbrechen ging, die bis dahin nicht nur im Land der Täter, sondern auch in dem der Opfer tabuisiert und verdrängt worden wa- ren, erforderte es zunächst eine lange Phase des vorbereitenden Dialogs, in dem das Vertrauen und die Bereitschaft der Menschen gewonnen werden mussten. In der Initiierungsphase des Projekts „Fragment to Mała Całość – Das Fragment ist ein kleines Ganzes“ war die Künstlerin Hauptansprechpartnerin. Ihre Präsenz und damit auch die Möglichkeit der persönlichen Kontaktaufnahme spielten eine entscheidende Rolle bei der Realisierung des Projekts. Sie reiste mehrere Male in Begleitung eines Freundes, der in einem der Dörfer aufgewachsen war und die Rolle des Übersetzers übernehmen konnte, in die Region, um die Bewohner zur Teilnahme zu bewegen. Dort wandte sie sich zuerst an die Bürgermeister oder andere Personen, die ihr Kontakte zu Augenzeugen der Ereignisse vor fünfzig Jahren vermitteln konnten. Nicht allein in Przodkowo, Heimatdorf ihres Begleiters und gewissermaßen Keimzelle des Projektes, wurden mehrere Bürgerversammlungen einberufen sowie Presse und Lokalsender informiert. Bereits in diesen Versammlungen wurde deutlich, in welchem Ausmaß die Existenz der meisten Bewohner von den nationalsozialistischen Verbrechen in ihrem Land noch immer geprägt war.

Durch die Besuche der Künstlerin wurde das Projekt schnell publik und löste damit zugleich eine öffentliche Diskussion über die Geschichte der jüngeren Vergangenheit aus. Die Ereignisse im Zusammenhang mit den Todesmärschen waren bis dato in diesem Umfang weder von politischer Seite thematisiert noch grundlegend wissenschaftlich erforscht worden. Zwar fanden von kirchlicher Seite jährliche Gedenkfeiern und -messen im ehemaligen Konzentrationslager Stutthof sowie in der nahe gelegenen Kathedrale von Gdańsk-Oliva statt. Während diese Gedenkveranstaltungen aber eher vom und für den Kreis der überwiegend außerhalb der Region lebenden ehemaligen Häftlinge des Konzentrationslagers zelebriert wurden, gab es für das Gros der heimischen Dorfbevölkerung, die in der Vergangenheit ebenfalls unter Misshandlungen und Repressionen durch die Deutschen gelitten hatten, noch kein öffentliches Forum. So stießen auch ihre Geschichten und Erinnerungen im Rahmen des Projekts erstmals auf Gehör.

Der ausgelöste Kommunikationsprozess führte aber nicht nur zur Narrativierung einzelner Lebensgeschichten, sondern auch zur Veröffentlichung bestimmter Geschehnisse, die in Verges- senheit geraten oder verschwiegen worden waren. Durch die Erzählungen kam zutage, an welchen Orten Exekutionen stattgefunden, wo Häftlingskolonnen übernachtet hatten oder wo sich Massengräber befanden. Auch wo entkommene Häftlinge in der Umgebung Unterschlupf gefunden hatten, wurde bekannt. Vielen der jüngeren oder zugezogenen Bewohner wurde damit bewusst, dass noch immer Spuren der Vergangenheit in die eigene Gegenwart hineinführten. In den Austausch über die Vergangenheit wurde die junge Generation auch insofern einbezogen, als diejenigen der Alten, die ungeübt im Schreiben oder aus Altersgründen nicht mehr dazu in der Lage waren, sie baten, ihre Geschichten für sie aufzuschreiben.

Die Idee, ihre Erinnerungen an die Ereignisse niederzuschreiben und der Öffentlichkeit (vor allem auch der Generation der Kinder und Enkel) zur Verfügung zu stellen, wurde besonders von den Zeitzeugen begrüßt. Für viele bedeutete es eine Entlastung, dass ihnen nach fünfzig Jahren des Schweigens und Verdrängens die Möglichkeit geboten wurde, über ihre Erlebnisse sprechen zu können. Das Motiv, ihre Erfahrungen auf diese Weise weiterzugeben und ihnen somit einen Sinn zu verleihen, veranlasste viele, sich noch einmal gezielt mit ihrer Vergangenheit auseinander zu setzen – mit allen schmerzlichen Konsequenzen hinsichtlich der Erlebbarkeit und Darstellbarkeit der Ereignisse.

Sigurdsson entwickelte für die Beiträge der Dorfbewohner eine Präsentationsform, die dem Archiv einerseits eine klare Ordnung und Struktur verlieh, andererseits aber auch deren Flexibilität und Erweiterung ermöglichte. Der Kern des Archivs bestand, entsprechend der Anzahl der Dörfer, aus 24 dunkelgrauen Kassetten mit weißer Aufschrift. Diese so genannten Ortskassetten waren für die Erinnerungen der Zeitzeugen bestimmt. Weitere 34 überwiegend weiße oder andersfarbige Kassetten waren für potentielle Autoren vorgesehen, die im Verlauf des Projekts hinzugewonnen werden konnten.

Die Kassetten wurden ergänzt durch fünf große Tischvitrinen, die verschiedene historische Text- und Bildmaterialien, Erinnerungsobjekten und Fundstücken enthielten. Bei den Dokumenten handelte es sich beispielsweise um eine Sammlung von 1.000 Tageszeitungen des ‚Hamburger Fremdenblatts‘ von 1939 bis Kriegsende, verschiedene antiquarische Bücher in polnischer und deutscher Sprache aus den dreißiger Jahren, Briefe von Kriegsgefangenen, Tagebücher von russischen, polnischen und jüdischen Zeitgenossen, Entpflichtungsbescheide, Deportationspapiere sowie ein Buch mit historischen Reden von 1933–1983. Zu den anderen Objekten zählten ein alter russischer Navigationsglobus, eine Spielzeugeisenbahn von 1931 sowie Fotoalben oder diverse polnische Abzeichen. Eine weitere Vitrine enthielt das Fragment einer Thorarolle, die die Künstlerin auf dem Dokumentenmarkt in Gdańsk entdeckt hatte. All diese Materialien waren als zusätzliches Anschauungs- und Assoziationsmaterial für die künftigen Nutzer des Archivs gedacht.

Die Verteilung der ‚Ortskassetten’ an die jeweiligen Bürgermeister wurde von Sigrid Sigurdsson persönlich übernommen. Im Zeitraum zwischen dem 25. Januar 1995 und 4. Februar 1995 fuhr die Künstlerin von der Gedenkstätte Stutthof ausgehend in die einzelnen Dörfer. Mit ihrer Route bezog sie sich auf die überlieferte Strecke des ersten Todesmarsches von Stutthof nach Wejherowo, dessen Spuren sie nun nach fünfzig Jahren wieder aufnahm. Jede Kassette war mit leeren Bögen Papier gefüllt, die von den Dorfbewohnern mit nach Hause genommen und dort bearbeitet werden konnten. Nach Fertigstellung der Aufzeichnungen gaben die Autoren ihre beschrifteten Bögen wieder an die Bürgermeister zurück, die diese in die ihnen ausgehändigte Kassette legten. Auf diese Weise wurden die Erinnerungen den Orten wieder zugeführt, mit denen sie historisch verbunden sind – gleich einer Rückgabe vergessener und verdrängter Geschichten an das lokale Gedächtnis. Zudem ließ die mit den 24 Kassetten geschaffene ‚Materialisierung‘ beziehungsweise archivalische Konkretisierung des ersten Todesmarsches der Gefangenen, der zwar zuvor durchaus bekannt war und sogar auf Karten verzeichnet wurde, die- sen nicht nur kartographisch sichtbar werden, sondern durch die persönlichen Dokumente in erneuter Intensität ‚spürbar‘ werden.

Insgesamt haben sich an die 180 Autorinnen und Autoren an dem Aufbau des Archivs beteiligt. Es wurde am 9. Mai 1995 im Alten Rathaus der Stadt Gdansk der Öffentlichkeit übergeben. Seit 2001 ist es im Museum der Gedenkstätte Stutthof untergebracht.

Ähnlich wie die im Zusammenhang mit dem Projekt „Deutschland – ein Denkmal“ von der Künstlerin in Auftrag gegebene Karte sämtlicher Lager des nationalsozialistischen Deutschland belegt auch das Polen-Projekt, dass die Diskursgrenzen sprengende künstlerische Arbeit Sigurdssons Anregung zur Auseinandersetzung mit und zur Erforschung der Geschichte zu geben vermag. Hierbei geht es jedoch keinesfalls darum, die Notwendigkeit der Aufarbeitung historischer Fakten zu bezweifeln. Vielmehr zielt Sigurdssons polyperspektivisches Verständnis des Historischen darauf ab, das subjektive Erleben und Darstellen von Geschichte im Rahmen eines gleichzeitigen Anstoßes zur objektiv-wissenschaftlichen Aufarbeitung mit der Zeit des Nationalsozialismus zu seinem Recht zu verhelfen. Gerade hierin liegt die einzigartige Konzeption der Künstlerin Sigrid Sigurdsson, die das subjektive Gedenken und die Darstellung der Geschichte nicht gegen das objektive Gedächtnis des Historischen auszuspielen sucht, sondern vielmehr das eine als komplementäre Seite des anderen begreift.

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* Überarbeiteter Auszug aus: Martina Pottek, Kunst als Medium der Erinnerung – Das Konzept der OFFENEN ARCHIVE im Werk von Sigrid Sigurdsson, Weimar 2007.