Wiener Zeitung: Ein Archiv der Lebenserfahrung

von Hermann Schlösser

Frankfurt am Main ist eine traditionsreiche Stadt. Der Dom war zwei Jahrhunderte lang der Schauplatz der Kaiserkrönungen, am Hirschgraben kam 1749 Johann Wolfgang Goethe zur Welt, 1848 tagte in der Paulskirche das erste demokratische Parlament Deutschlands. So ließen sich viele Geschichten erzählen.

Trotz ihrer großen Vergangenheit zeigt die im Zweiten Weltkrieg zerstörte und danach mehrmals umgestaltete Stadt aber ein sehr gegenwärtiges Gesicht. Wer sich zum ersten Mal hier aufhält, wird vermutlich vor allem von der Hochhaus-Skyline beeindruckt sein, die der Stadt den Spitznamen „Mainhattan“ eingebracht hat. Mit diesen Gebäuden verglichen, wirkt der einstmals alles überragende Kaiserdom wie ein Dorfkirchlein.

Aber warum sollte das anders sein? Das heutige Frankfurt ist der Wohnsitz zeitgemäßer Mächte: Die Banken beherrschen die Innenstadt, der größte deutsche Flughafen prägt das Umland. Auf dem Messegelände löst ein Großereignis das andere ab, und man muss sich schon ein bisschen anstrengen, um mit Frankfurts Tempo Schritt zu halten.

Rückbesinnung

Allerdings sind schon seit den 1980er Jahren Gegentendenzen zu beobachten: Das moderne, Frankfurt vergewissert sich in unterschiedlichen Formen seiner Vergangenheit. Der Römerberg, auf dem das alte Rathaus der Stadt steht, wurde mit historisierenden Fachwerkhauszeilen bebaut, womit zumindest eine Erinnerung an die zerstörte Altstadt erweckt wurde.

Im Zuge dieser Re-Historisierung des geschichtlich bedeutsamen Innenstadtgebiets mussten auch zwei Bauten der betonverliebten Frankfurter Nachkriegs-Moderne verschwinden: Das „Technische Rathaus“ und ein Flügel des Historischen Museums, beide in den 1970er Jahren auf dem Römerberg-Terrain errichtet, wurden abgerissen. Sie werden zurzeit durch Gebäude ersetzt, deren Proportionen dem historischen Maß der Stadt besser entsprechen sollen als die verschwundenen Betonklötze.

In eben diesem historischen Museum, das gerade in einem entscheidenden Umbau begriffen ist, entsteht auch ein Projekt, das sich allen zeitgemäßen Forderungen nach schneller Verwertbarkeit und unmittelbarer Event-Wirkung entzieht: Die „Bibliothek der Alten“ sammelt Lebenszeugnisse von Menschen, „die mit der Geschichte der Stadt Frankfurt am Main verbunden sind“- so steht es in einer Projektbeschreibung des Museums.

Die Formulierung „mit der Geschichte der Stadt verbunden “ ist aus gutem Grund sehr unspezifisch. Man möchte nicht nur alt eingesessene Frankfurter ansprechen, sondern auch Zuwanderer, die erst in einer späteren Lebensphase aus dem In- oder Ausland in die Stadt gekommen sind. Ebenso gilt das archivalische Interesse all jenen, die aus der Stadt ausgewandert sind (bzw. in den Jahren des Nationalsozialismus aus ihr vertrieben wurden). Irgendeine Beziehung zu Frankfurt muss freilich bestehen, aber wie die genau aussieht – das eben ist schon Thema der lebensgeschichtlichen Recherchen, deren Ergebnisse in der „Bibliothek der Alten“ archiviert werden.

Gedächtniskunst
Wäre das alles, würde sich die Frankfurter Initiative nicht von anderen verdienstvollen Geschichtswerkstätten und Gedächtnisprojekten unterscheiden, die in den vergangenen Jahrzehnten in vielen deutschen Städten und Regionen entstanden sind. Aber die „Bibliothek der Alten“ verdient aus zwei Gründen besondere Beachtung: Zum einen ist sie ein Vorhaben von ungewöhnlich langer Laufzeit, zum anderen ist sie nicht nur ein Archiv, sondern auch ein Kunstwerk.

Die Arbeit am Projekt begann im Jahr 2001, ihr Abschluss ist für das Jahr 2105 vorgesehen. Wolf von Wolzogen, der erste Leiter der Bibliothek, der mittlerweile schon die Verantwortung weitergegeben hat, illustrierte diese wahrhaft lange Dauer des Vorhabens in einem Aufsatz mit den Worten: „Keiner von uns wird je den Schlussakkord des Projekts erleben und die letzten zukünftig Beteiligten sind noch nicht geboren.“ Es klingt in Zeiten der schnellen Ablaufdaten und der gewollten Obsoleszenzen geradezu utopisch, dass ein Museum die Verantwortung für ein Experiment übernimmt, dass ein Jahrhundert lang laufen soll. Aber genau das ist in Frankfurt der Fall.

In den Jahren 2000 und 2001 fand in Frankfurt die Ausstellung „Das Gedächtnis der Kunst“ statt. Auf dieser Schau zeigte die 1943 geborene Installations-Künstlerin Sigrid Sigurdsson erstmals ihr Konzept einer „Bibliothek der Alten“, das dann vom Historischen Museum übernommen wurde.

Sigurdsson hat das Spannungsverhältnis von kollektivem Gedächtnis und individueller Erinnerung in ihrer Arbeit mehrfach thematisiert. In einem Museum der nordrhein-westfälischen Stadt Hagen hat sie in 80er Jahren z. B. ein Regal installiert, das sie im Lauf der Zeit mit eigens dafür entworfenen Büchern befüllt hat.

Auch in Frankfurt stehen Regale im Mittelpunkt. Hier werden sie allerdings nicht mit Büchern gefüllt, sondern mit geräumigen Kassetten. Sigurdsson hat sie gestaltet, aber 150 Männer und Frauen aus unterschiedlichen Gesellschafts- und Bildungsschichten werden sie im Lauf der Jahre mit Erinnerungsstücken befüllen. Es entspricht ganz dem Willen der Künstlerin, dass ihr Werk von anderen Menschen weiter entwickelt und umgestaltet wird, während sie sich zunehmend aus dem Geschehen zurückzieht. Deshalb werden die Beiträger zur „Bibliothek der Alten“ auch als „Autorinnen“ und „Autoren“ bezeichnet: Sie stellen nicht einfach Dokumente zur Verfügung, sondern arbeiten aktiv und kreativ an der Entstehung eines großen Kunstwerks mit, dessen Endgestalt erst im Jahr 2105 zu sehen sein wird.

Fragen zur Praxis

Melanie Hartlaub und Thomas Ferber, zwei Autoren der Bibliothek der Alten, sichten die Kassette von Frau Hartlaub.Bild ©hmf

Und wie geht das praktisch vor sich? Darüber haben wir mit der derzeitigen Leiterin der Bibliothek, der Kulturwissenschafterin Angela Jannelli gesprochen. Sie erzählte, dass jede Autorin, jeder Autor die Möglichkeit hat, eine Kassette zu füllen. Womit? Ja, mit Tagebüchern, Fotografien, Bildern, Kalendern, Lieblingslektüren und dergleichen mehr. Und wie viel Zeit ist dafür vorgesehen? Menschen, die noch nicht 50 Jahre alt sind, können bis zu 50 Jahre an ihrer Kassette arbeiten, Älteren wird ein Zeitraum von drei Jahren zugestanden. In der Regel soll einmal im Jahr eine neue Kassette der Öffentlichkeit übergeben werden. Auch nach dieser Veröffentlichung können die Autoren noch Material dort deponieren. Sie dürfen allerdings nichts mehr von dem zurückholen, was sie dem Museum übergeben haben.

Natürlich stellt sich bei einem solchen Projekt die Frage der Auswahl. Wer kommt für eine Mitarbeit in Frage? Angela Jannelli meint dazu, in den ersten Jahren habe man eher „aus dem Bauch“ heraus entschieden, nun aber sei das Museum dabei, genauere Kriterien für eine Aufnahme zu entwickeln. Schließlich gehe es darum, das städtische Leben in möglichst vielen Aspekten zu erfassen. Deshalb arbeite sie auch mit Vereinen und Verbänden zusammen, um geeignete Mitwirkende am großen Bibliotheksprojekt zu finden.

Zu den vielen Qualitäten dieser „Bibliothek der Alten“ gehört auch die Entstehung eines sozialen Zusammenhangs. Die Autoren und Autorinnen treffen sich regelmäßig und werden ins Museumsleben eingebunden.

Neben den Kassetten entstehen auch Filmporträts der Autorinnen und Autoren, die von professionellen Filmemachern realisiert werden. Einer von ihnen ist der Frankfurter Enzio Edschmid, der sich im Gespräch sehr zufrieden mit dieser Arbeit zeigt: Da würden nicht einfach routinierte Porträts abgedreht, man nehme sich Zeit füreinander, bereite den Film in langen Treffen vor, wodurch ein großes Vertrauen entstehe.

Im Idealfall ergeben sich aus dieser Filmarbeit sogar bleibende Freundschaften. Das hat Edschmid mit der 93-jährigen evangelischen Theologin und Journalistin Marlies Flesch-Tibesius erlebt, die er in einem Film mit dem schönen Titel „Das Widersprüchliche ist Teil des Wahrhaftigen“ porträtiert hat. Die gemeinsame Arbeit ist vorbei, aber der Filmemacher und die Theologin treffen sich seitdem regelmäßig zum Tee und plaudern angeregt. So trägt die wunderbare „Bibliothek der Alten“ eine Fülle unterschiedlicher Früchte. Und das zumindest 100 Jahre lang!

Hermann Schlösser, geboren 1953 in Worms, ist Redakteur des „extra“ der „Wiener Zeitung“ und Germanist und Anglist.

URL: http://www.wienerzeitung.at/themen_channel/wz_reflexionen/vermessungen/574945_Ein-Archiv-der-Lebenserfahrung.html